Neapel: Fontanelle Friedhof und die „Pezzentelle“ Schädel
Neapel: Fontanelle Friedhof und die „Pezzentelle“ Schädel
Wer an Neapel denkt, hat meist Pizza, Vesuv und chaotische Gassen im Kopf. Aber unter der Stadt, zwischen den dunklen Gängen und dem muffigen Duft von feuchtem Stein, liegt ein Ort, der so seltsam wie faszinierend ist: der Cimitero delle Fontanelle. Ein Friedhof, der alles andere als gewöhnlich ist. Hier stapeln sich Schädel und Knochen – nicht in einem makabren Horrorfilm-Setting, sondern als Teil eines jahrhundertealten Volkskults, der bis heute lebt: der Kult der „Pezzentelle“.
Der Fontanelle-Friedhof: ein Überblick
Der Fontanelle-Friedhof befindet sich im Stadtteil Materdei, etwa fünf Kilometer nördlich des historischen Zentrums von Neapel. Entstanden ist er im 16. Jahrhundert, als eine Pestepidemie die Stadt erschütterte. Über 20.000 Menschen sollen damals in Neapel gestorben sein – viele Opfer landeten hier, weil die bestehenden Friedhöfe die Masse nicht aufnehmen konnten. Später kamen weitere Opfer von Hungersnöten, Choleraepidemien und Armut hinzu.
Der Friedhof ist kein Ort der prunkvollen Grabmäler oder marmorn glänzenden Sarkophage. Stattdessen handelt es sich um ein weitläufiges Labyrinth aus Stollen und Höhlen, in dem Schädel und Knochen in einer eigenartigen Ordnung liegen. Manche wurden nach Familien geordnet, andere wild gestapelt. Die Atmosphäre ist dicht, still, manchmal fast erdrückend.
Wenn man durch die Gänge geht, spürt man sofort, dass hier Geschichte, Aberglaube und Volksglaube miteinander verschmelzen. Kein Wunder, dass der Friedhof schon immer ein Anziehungspunkt für die Neapolitaner war – nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch, weil er einen Ort für Rituale und private Bitten darstellte.
Die „Pezzentelle“: kleine Seelen mit großer Bedeutung
Der eigentliche Star des Friedhofs sind die sogenannten „Pezzentelle“. Das Wort lässt sich ungefähr mit „arme Seelen“ oder „verlassene Seelen“ übersetzen. Diese Schädel gehören Menschen, die ohne Familie gestorben sind oder deren Angehörige sich nicht um ein ordentliches Begräbnis kümmern konnten.
Hier beginnt der Kult: Besucher wählen oft einen Schädel aus, pflegen ihn, sprechen mit ihm, bringen kleine Geschenke wie Zigaretten, Münzen oder Rosen. Man glaubt, dass die „Pezzentelle“ im Gegenzug Glück, Schutz oder Hilfe im Alltag bringen. Manche Besucher berichten, dass ihre Bitten erfüllt wurden – Geldprobleme gelöst, Krankheiten geheilt, Liebesangelegenheiten geregelt.
Ein besonders interessantes Detail: Der Schädel muss regelmäßig besucht werden. Wer den Kontakt bricht, riskiert angeblich, dass die „Pezzentella“ beleidigt ist und die gewünschte Hilfe ausbleibt. Manche Einheimische erzählen sogar, dass der Schädel „spricht“ oder Zeichen gibt – ein Finger ragt, die Augenhöhlen wirken plötzlich „lebendig“.
Man könnte denken, dass das alles Aberglaube ist. Aber in Neapel, wo Volksreligion, Katholizismus und lokale Bräuche miteinander verschmelzen, ist dieser Kult seit Jahrhunderten ein Teil des kollektiven Gedächtnisses.
Geschichte und Legenden
Die Ursprünge des Friedhofs reichen tief in die Geschichte Neapels. Während der Pest im 1656 wurden tausende Leichen hier deponiert. Später, im 19. Jahrhundert, fand der Friedhof auch bei Künstlern und Intellektuellen Aufmerksamkeit. Man spricht von Legenden über „Wunder“, die die Pezzentelle vollbringen sollen, und von Geschichten über Liebeszauber und Schutzrituale.
Ein besonders bekannter Vorfall stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert: Ein armer Mann soll sein Glück gewettet haben und erhielt, nachdem er eine Pezzentella gepflegt hatte, einen Geldsegen, der ihm half, eine kleine Trattoria zu eröffnen. Ob es stimmt? Wer weiß. Aber solche Geschichten kursieren in Neapel bis heute, oft am Rande von Plauderei und Volksmythos.
Interessant ist auch die Beziehung zur katholischen Kirche. Während manche Priester den Kult tolerierten, sahen andere ihn skeptisch – schließlich passte er nicht in die offizielle Liturgie. Dennoch blieb er lebendig. Die Pezzentelle wurden zu einer Art „Zwischenwelt“ zwischen Leben und Tod, zwischen Aberglaube und religiösem Ritual.
Architektur und Atmosphäre
Wer den Friedhof besucht, merkt schnell: Es ist nicht nur der Kult, der faszinierend ist. Die Architektur ist bemerkenswert. Der Friedhof erstreckt sich über mehrere hundert Meter unterirdischer Gänge. Die Wände sind aus Tuffstein, dunkel, feucht, mit Moos bewachsen. In manchen Ecken spürt man noch den Geruch von Weihrauch und Erde, manchmal vermischt mit Modergeruch – ein Geruch, der gleichzeitig abstößt und anzieht.
Licht kommt kaum herein. Taschenlampen oder die kleinen Lampen der Führungen helfen beim Navigieren. Manche Gänge wirken wie Katakomben in Rom, aber Neapel hat diesen eigenen, ungeschönten Charme: chaotisch, lebendig, irgendwie „echt“.
Die Schädel selbst sind oft nummeriert, manche haben noch Reste von Haaren, manchmal erkennt man einen Zahn, eine Kieferpartie. Wer genau hinschaut, sieht auch kleine Hinweise auf persönliche Geschichten: eingeritzte Initialen, Kerben oder handschriftliche Notizen. Es ist ein merkwürdiger Mix aus Makabrem und Intimität. Man hat das Gefühl, die Menschen, die hier liegen, haben immer noch ein Stück von ihrer Persönlichkeit behalten.
Der Friedhof heute
Heute ist der Fontanelle-Friedhof eine Mischung aus Touristenattraktion und Pilgerstätte. Zahlreiche Führungen erklären die Geschichte, zeigen die Pezzentelle und erzählen von Ritualen und Bräuchen. Dennoch: Wer hier herkommt, sollte Respekt zeigen. Fotos sind erlaubt, aber oft nur ohne Blitz. Man merkt sofort, dass dies kein gewöhnlicher Ort ist, um schnell ein Selfie zu machen.
Neben Touristen kommen auch Einheimische regelmäßig. Manche besuchen den Friedhof, um ihren Sorgen Luft zu machen, andere um Bitten zu äußern. Die Mischung aus Totenritual, Volksglaube und Geschichte macht den Friedhof einzigartig. Kein Wunder, dass er als eine der eigenartigsten Sehenswürdigkeiten Neapels gilt.
Kuriose Fakten und Zahlen
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Über 40.000 Schädel sollen im Friedhof lagern, manche Quellen sprechen von bis zu 60.000 Knochen.
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Der Friedhof war bis in die 1960er Jahre ein echter Alltagsort – die Menschen brachten ihre verstorbenen Angehörigen hierher, die Stadtverwaltung kümmerte sich kaum um Ordnung.
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Einige Schädel stammen aus der Pest von 1656, andere von der Choleraepidemie 1836.
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Der Friedhof ist in verschiedene „Sektoren“ unterteilt: Familiengräber, anonyme Gräber, Opfer von Epidemien.
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Der Kult der Pezzentelle wurde in den 1970er Jahren von Anthropologen und Soziologen dokumentiert – sie beschrieben ihn als einzigartiges Beispiel für synkretistische Volksreligion.
Persönlicher Eindruck
Ich muss zugeben: Beim ersten Betreten des Friedhofs hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits Beklemmung, andererseits Neugier. Die Schädel starren einen an, und gleichzeitig wirkt alles friedlich. Ich habe einen kleinen Schädel ausgewählt, wie es die Neapolitaner tun – nur um das Ritual ein bisschen nachzuempfinden. Die Erfahrung war eigenartig intensiv, fast meditativ.
Die Mischung aus Geschichte, Tod und lebendigem Volksglauben ist etwas, das man kaum in Worte fassen kann. Es ist ein Ort, der Geschichten erzählt – leise, manchmal makaber, manchmal tief menschlich.
Besuchstipps
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Öffnungszeiten: In der Regel täglich von 9 bis 17 Uhr, abhängig von Führungen und Veranstaltungen.
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Führungen: Empfehlenswert, da die Gänge labyrinthisch sind und die Geschichten ohne Kontext schwer zu verstehen sind.
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Kleidung: Bequeme Schuhe, eventuell ein Pullover, da es unterirdisch kühl sein kann.
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Respekt: Keine lauten Gespräche, kein Herumspielen mit den Schädeln, Fotografieren nur nach Erlaubnis.
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Beste Zeit: Frühmorgens oder später Nachmittag, um Touristenmassen zu vermeiden und die Stimmung zu erleben.
Fazit
Der Fontanelle-Friedhof ist kein Ort für oberflächliche Neugier. Wer ihn besucht, betritt eine Welt zwischen Leben und Tod, Aberglaube und Geschichte. Die Pezzentelle sind mehr als nur Schädel: Sie sind Zeugen eines ganzen Jahrhunderts neapolitanischer Volkskultur, Ausdruck von Hoffnung, Angst und menschlicher Nähe.
Neapel selbst ist chaotisch, lebendig, laut – und genau das spiegelt sich hier unten wider. Unter der Stadt, zwischen dunklem Stein und endlosen Gängen, wird das Leben auf seltsame Weise greifbar, selbst im Angesicht des Todes.
FAQ
Was bedeutet „Pezzentelle“?
Es handelt sich um Schädel von Menschen, die ohne Familie oder ordentliche Bestattung gestorben sind. Der Begriff lässt sich als „arme Seelen“ übersetzen.
Kann man den Friedhof alleine besuchen?
Ja, aber Führungen werden empfohlen, da die Gänge verwirrend sein können und viele Geschichten erst durch Erklärungen verständlich werden.
Sind Fotos erlaubt?
Ja, meist ohne Blitz. Respekt vor den Toten ist oberstes Gebot.
Wie alt sind die Schädel?
Die ältesten stammen aus dem 16. Jahrhundert, viele aus Pest- und Choleraepidemien des 17. bis 19. Jahrhunderts.
Gibt es ähnliche Kultstätten in Italien?
Nicht in dieser Form. Der Kult der Pezzentelle ist einzigartig für Neapel.
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Entdecken Sie den Fontanelle-Friedhof in Neapel und den Kult der „Pezzentelle“ Schädel. Geschichte, Rituale, Aberglaube und kuriose Fakten über diese einzigartige neapolitanische Tradition.
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